Eine Stadtführung der anderen Art
Stadtwanderer nennt er sich, der Politikwissenschafter und Historiker Claude Longchamp. Und tatsächlich fühlt man sich mit ihm unterwegs durch Berns Gassen eher auf einer Stadtwanderung als auf einer Stadtführung. Nicht die Figuren am Zytglogge sollen unsere Blicke auf sich ziehen, nicht am Chindlifresserbrunnen bleiben wir stehen, um uns eine schaurige Geschichte anzuhören und keine Erwähnung findet das erste in den umliegenden Wäldern erlegte Tier, welches der Stadt in der Aareschlaufe ihren Namen gegeben haben soll.
Natürlich kann eine Stadtführung oder eine Stadtwanderung nicht ohne Nennung der Gründung Berns durch Herzog Berchtold von Zähringen beginnen. Auch wenn 1191 in keiner einzigen schriftlichen Quelle als Gründungsdatum belegt ist, nehmen wir das einfach hin, sind wir doch stolz auf unsere 828-jährige Stadtgeschichte. Doch schnell wird unsere Aufmerksamkeit weg von Sagen hin zu Fakten geleitet. Wir erfahren, wie Bern sich ausgebreitet hat, hören von Katastrophen wie der Pest, der ein Viertel der Stadtbevölkerung erlag, vom einträglichen Söldnergeschäft, vom Schultheiss, der die Stadt streng paternalistisch regierte. Gewählt wurde der Schultheiss vom Kleinen Rat, dieser wiederum vom Grossen Rat und dieser auch wieder vom Kleinen Rat und von 16 Wahlmännern aus den vier Stadtquartieren. Seit der Unabhängigkeit vom Kaiserreich war das reiche Bern als Burgergemeinde organisiert und gegen Migranten hermetisch abgeschlossen. Nur Familien mit Stammbaum gehörten zur Aristokratie und nur Patriarchen hatten Zugang zur Politik. Effektiv regiert wurde Bern durch den Schultheiss und einen Teil des Kleinrats, den Geheimrat. "Burger, Zünfte – wer stand nun wem vor?", frage ich mich nach den geballten, aber perfekt ins Thema einführenden Informationen bei unserer ersten Station, dem Zähringerbrunnen in der Kramgasse. Aber wie auch immer, denke ich auf dem Weg zum nächsten Stopp, unsere patriarchalischen Vorväter haben für uns eine wunderschöne und lebenswerte Stadt organisiert, regiert und hinterlassen.
Es mag fast zynisch anmuten, dass sich am Ende der Gerechtigkeitsgasse der Richtplatz befand. Hier verkündete der Schultheiss seine Urteile, Hinrichtungen allerdings fanden ausserhalb der Stadtmauern statt. Exakt an diesem Ort, wo die Kreuzgasse die Hauptgassen quert, wurde auch der revolutionäre Schriftsteller und Politiker Samuel Henzi zum Tod durch das Schwert verurteilt, nachdem sein Drama "Wilhelm Tell" als aufrührerisch verboten wurde. Und weil die Obrigkeit die Aufführung von Theaterstücken für das Volk als zu gefährlich beurteilte, erhielten die Bauherren des repräsentativen Hotels de la Musique an der Hotelgasse 1766 keine Bewilligung für Theatersäle, aber immerhin für Ballsäle und Konzerthallen. Erst mit dem Einzug der revolutionären Franzosen 1798 wurde das Theaterspielen zugelassen. "Wilhelm Tell" von Samuel Henzi allerdings wurde nie aufgeführt, wobei vielleicht auch nicht unerwähnt bleiben sollte, dass Henzi den Tell etwas modulierte und zum Ankläger der zerfallenden Moral im zwischengeschlechtlichen Verhalten machte.
Die Franzosen brachten nicht nur das Theater (zurück) nach Bern, sondern klauten den Bernern auch den Staatsschatz und die Bären, hinterliessen ihnen dafür farbige Strassenschilder. Grund für diese Kolorierung war nicht etwa der Wunsch nach einer künstlerischen Aufwertung der Stadt, sondern der Analphabetismus der französischen Besatzungssoldaten verlangte nach einem farbigen Orientierungssystem, um nach ihren ausufernden Trinkgelagen ihr Quartier wiederzufinden.
Nicht viel erinnert mehr an die Helvetische Revolution von 1798. In Bern gibt es weder eine « Place de la Liberté » noch eine « Rue de la Révolution ». Es gibt lediglich die verblasste Strassenbezeichnung im Sandstein an der Junkerngasse « Rue des Gentilshommes ». Man erinnert sich nicht gern an die Helvetische Revolution. Der Stadtstaat wurde zur Verwaltungseinheit degradiert, die Waadt und der Aargau gingen verloren, das Oberland wurde zu einem eigenen Kanton. Und die Burger freuten sich nicht über ihren Machtverlust und nur noch Citoyen genannt zu werden.
Die Franzosen hinterliessen uns aber auch ein neues Staatsverständnis mit der Gewaltentrennung und einer Hauptstadt. Die ehrwürdige Tagsatzung wurde durch eine Exekutive, eine Legislative und eine Judikative ersetzt, was die Macht von wenigen Familien auf viele Vertreter aller Kantone verteilte.
Im Ancien Régime gab es ein Jugendparlament, besetzt mit den Söhnen der Patrizier, welches im Rathaus zum Äusseren Stand tagte. Im nobel hergerichteten Empire-Saal wurde 1831 die liberale Verfassung des Staats Bern ausgearbeitet. Doch auch die Katholiken wollten mitreden, sie berieten sich gleich in der Nachbarschaft, im Zunfthaus zur Schmiede. Zwei unterschiedliche Gesinnungen potenzieren sich zu unzähligen Ansichten – das schreit geradezu nach einem Konsens. Man holt die Fachmeinung eines Professors für Staatsrecht an der Universität Bern mit Kenntnis über das US-amerikanische Staatssystem und einigt sich letztlich auf ein Zweikammernsystem mit separater Beratung und getrennter Abstimmung bis zur Einigung. So führte der gutschweizerische Kompromiss zur späteren Entstehung des heutigen Systems bestehend aus National- und Ständerat.
Die ersten Versammlungen von National- und Ständerat fanden 1848 im Hôtel de la Musique statt. Eine der ersten Aufgaben war die Bestimmung der Hauptstadt. Zürich sah sich favorisiert und fand dann doch keine Mehrheit. Und auch Luzern hätte gern ein Stück des Kuchens abbekommen. Vielleicht war es auch hier ein Kompromiss, der den Ausschlag für Bern gab. Bern konnte mit seiner zentralen Lage und guten Verkehrsanbindungen punkten. Informellen Quellen zufolge solle Bern auch über die besseren Bordelle verfügt haben. Dafür wurde Bern nicht Hauptstadt, sondern nur Bundesstadt mit Sitz der Regierung.
Doch die Räte sollten nicht nur regieren, sondern auch organisieren. Schon früh befasste man sich mit der Zentralisierung bestimmter Aufgaben wie einer gemeinsamen Rechtsprechung, der Armeeführung sowie des Münz- und Postwesens. Bereits 1849 nahm die Bundespost die Beförderung von Briefen, Paketen, Geld und Personen in Angriff – per Kutsche selbstverständlich. Das Bahnwesen wurde hingegen erst nach einer Volksabstimmung 1898 verstaatlicht. Zur Gründung der SBB kam es 1902 aus dem Zusammenschluss der Schweizerischen Zentralbahn und der Schweizerischen Nordostbahn. Es ist selbstredend, dass erst ein schweizweit unkoordinierter Wirrwarr entstanden war, welcher nur noch mit einem gemeinsamen, einheitlichen – zumindest nahezu einheitlichen – System aufrechterhalten werden konnte.
Auf faszinierende und packende Weise werden wir auf den diversen Stationen unserer Stadtwanderung über die politische Entwicklung Berns aufgeklärt, immer wieder ergänzt durch die sich parallel entwickelnde politische Geschichte der modernen Schweiz im Kontext der unterschiedlichen Kultur und Bedürfnisse der Stadt- und Landgebiete sowie der Bedeutung und des nicht geringen Einflusses von Kirche und Wirtschaft. Unsere Wanderung endet auf dem Bundesplatz, noch immer regnet es und noch immer begleitet uns die ältere Dame, die uns seit dem Zähringerbrunnen treu zur Seite steht und noch viel mehr zu wissen glaubt als unser Wanderleiter Claude Longchamp.
Egal ob es einen Wilhelm Tell gab, der den Landvogt Gessler mit einer Armbrust zur Strecke brachte, egal ob es der Wahrheit entspricht, dass sich am 1. August 1291 drei mutige Eidgenossen auf dem Rütli trafen und schworen, ein einzig Volk von Brüdern sein zu wollen. Was wir heute haben, ist es wert, Sorge dazu zu tragen. Die Schweiz verfügt über manch gutes System und unzählige Organisationen, welche dieses kleine Land mit 41'285 Quadratkilometern zu einem der lebenswertesten Flecken der Welt machen. Und die zuweilen belächelte gutschweizerische Kompromissbereitschaft hat über die Jahrhunderte so manches Problem friedlich und ohne kriegerische Auseinandersetzungen gelöst.
Ich danke Claude Longchamp für diese eindrückliche Stadtwanderung. Ich dachte bis zum 16. April 2019, über eine angemessene Kenntnis der Berner Stadtgeschichte zu verfügen. Heute weiss ich, dass ich nur einen winzigen Bruchteil kenne, der sich aber anlässlich dieses tollen Events ein kleines Bisschen vergrössert hat. Herzlichen Dank für www.stadtwanderer.net, wo all das und noch viel, viel mehr Spannendes, Unglaubliches und Interessantes zu finden ist.